Schüler decken vergessene Schicksale jüdischer Familien in Frankfurt auf
Stierstadt, 09.09.2024
Leistungskurs Geschichte der Gesamtschule Stierstadt forscht erneut im Hessischen Hauptstaatsarchiv zu jüdischen Familien aus Frankfurt, die während der NS-Zeit zwangsenteignet wurden. Die Ergebnisse sind in der Frankfurt History App verfügbar.
Bereits im Frühjahr wurde das Schulprojekt „5 Orte - 5 Geschichten“ im Rahmen einer Pressekonferenz im Historischen Museum Frankfurt vorgestellt. Ziel des Projekts ist es, auf die Schicksale jüdischer Familien im Frankfurter Ostend aufmerksam zu machen, die während der NS-Zeit ausgegrenzt und verfolgt wurden. In der App sind inzwischen rund 1000 Beiträge versammelt, die eine intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte Frankfurts in dieser Zeit ermöglichen. Bürgerinnen und Bürger sowie Touristen erhalten so neue Perspektiven auf die lokale Geschichte. Das Projekt wächst kontinuierlich: Immer wieder werden neue Orte und Geschichten recherchiert und der App hinzugefügt. Schulen profitieren besonders davon, indem sie sich aktiv an der historischen Forschung beteiligen können. Schüler erhalten so die Gelegenheit, sich intensiv mit der NS-Zeit und dem Antisemitismus in ihrer eigenen Region auseinanderzusetzen.
Eine der ersten Schulen, die an diesem Projekt mitwirkte, ist die Gesamtschule Stierstadt. Der Leistungskurs Geschichte nahm bereits mehrfach teil. Ziel ist es nicht nur, das umfangreiche Material für den Unterricht zu nutzen, sondern auch, einen wertvollen Beitrag zur Allgemeinheit zu leisten, da alle von den Schülern gesammelten und aufbereiteten Daten für die Nutzer der Frankfurt History App zugänglich sind.
Über historische Stadtpläne werden relevante Orte erkundet, und in Zusammenarbeit mit dem Institut für Stadtgeschichte werden Akten über die damaligen Bewohner im Hessischen Hauptstaatsarchiv bereitgestellt. Schulen, die Interesse haben, können über eine Anfrage eine Auswahl an Orten zur eigenen Bearbeitung erhalten.
Die Lehrerin Ricarda Wawra von der Gesamtschule Stierstadt führte ihren Leistungskurs im Rahmen des Pilotprojekts ins Hessische Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden, wo die Schüler anstelle des klassischen Unterrichts die Originaldokumente der NS-Zeit untersuchten. Unter Anleitung des Archivpädagogen Dirk Strohmenger lernten die Schüler den Umgang mit den historischen Akten. Mit großer Sorgfalt und unter Verwendung von Handschuhen befassten sie sich mit Briefen, Grundbuchauszügen, ärztlichen Gutachten und weiteren Dokumenten über ehemalige Bewohner Frankfurts. Die Jugendlichen waren beeindruckt von den oft über 70 Jahre alten Akten.
Die Schüler recherchierten Orte, die zu einem Pool von 100 im Voraus ausgewählten Orten gehören, die die Historikerin Ann-Kathrin Rahlwes erforscht hatte. Laurenz Schramm, einer der Schüler, empfand die Arbeit im Archiv als viel intensiver und spannender als den regulären Schulunterricht: „Man hätte sich ewig mit diesen Bergen an Papieren beschäftigen können. Die tragischen Schicksale haben uns tief bewegt – so versteht man, was damals wirklich los war, direkt vor unserer Haustür.“
Durch die Akten erhielten die Schüler tiefe Einblicke in die Lebenswege der Betroffenen. „Wir konnten den Aufstieg und den von außen erzwungenen Niedergang der Familien Schritt für Schritt nachvollziehen“, berichtet der Schüler Erik Hartmann. Genau darin liegt der Kern des Projekts: Es geht darum, echte Anteilnahme und Reflexion über die Verbrechen der NS-Zeit zu fördern und das Vergessen zu verhindern. So deckte Eriks Gruppe beispielsweise die Geschichte der Brüder Kulp auf, denen systematisch die Existenzgrundlage entzogen wurde: Ihr Haus wurde zwangsversteigert, einer der Brüder als "krank" in eine Pflegeeinrichtung eingewiesen und der andere 1942 deportiert.
Eine andere Gruppe beschäftigte sich mit dem Weinhändler Albert Flörsheim, dem zwar die Flucht gelang, der jedoch alles verlor, was er sich aufgebaut hatte. Am Ende hielt er die Schikanen nicht mehr aus und nahm sich das Leben. Der Schüler Konrad Pflüger äußerte sich betroffen: „Der Druck auf jüdische Familien war enorm. Er zerstörte das Leben von so vielen, die dieser Belastung nicht standhalten konnten.“
Laurenz Schramm, der regelmäßig die Frankfurter Innenstadt besucht, zeigte sich tief bewegt von den Erkenntnissen, die das Projekt brachte: „Hinter den unscheinbaren Fassaden, an denen wir täglich vorbeigehen, verbergen sich diese tragischen Geschichten. Solche Schicksale berühren uns. So etwas darf nie wieder passieren! Es ist gut, dass wir einen Beitrag dazu leisten, diese Geschichte weiter bekannt zu machen.“
Lehrerin Ricarda Wawra sieht ihren Lehrauftrag als erfüllt, da die lokale Recherche nicht ohne Grund im Hessischen Erlass verankert ist. Sie betont, dass die haptische Erfahrung mit den Originalakten eine besondere Chance für die Schüler darstellt. Diese seien so vertieft in die Arbeit, dass sie sogar Pausen ablehnen, um weiter zu forschen. Solche Projekte fördern Mitgefühl und Bewusstsein für die Gräueltaten der Geschichte. Auch Dirk Strohmenger stimmt dem zu und hebt hervor, dass das freie Recht auf Information es ermöglicht, tausende Akten im Hessischen Hauptstaatsarchiv einzusehen.
Die größte Herausforderung für die Schüler besteht darin, die Fülle an Informationen in kurze, prägnante Texte zu fassen, die später in der Frankfurt History App in schriftlicher und vertonter Form erscheinen. Nutzer der App sehen die Ergebnisse als bunte Markierungen auf digitalen Karten, wobei rote Nadeln Orte der Verfolgung kennzeichnen. Fünf dieser Orte stammen aus der Arbeit des Leistungskurses Geschichte der Gesamtschule Stierstadt – Orte, die von Ausgrenzung, Verfolgung und dem Leid jüdischer Familien zeugen.